Wie wirkt der Gedanke der Dreigliederung?
Die Entwicklung von Ruhe mit Hilfe einer Dreigliederung des Körpers bei der Ausführung der Kopf-Knie-Stellung
Die Kopf-Knie-Stellung ist eine vorwärtsbeugende, sehr spannkräftige Übung, die auf dem Boden sitzend, einen lebendigen, aktiven Einsatz fordert. Die Rückseite der Beine berühren während der gesamten Ausführung langgestreckt den Boden. Die unteren und mittleren Rückenabschnitte werden zuerst aktiv nach vorne oben gedehnt, damit die Wirbelsäule in einer durchlaufenden Spannung gehalten wird. Im späteren Verlauf wird die obere Brustwirbelsäule miteinbezogen und ebenfalls ausgedehnt. Kopf, Nacken, Schultern und Arme bleiben während der Ausführung entspannt. Arme und Hände werden erst gegen Ende der Übung weit über die Füße hinausgetragen und gelöst am Boden abgelegt.
Der aktive Einsatz, den der Übende unbedingt leisten muss, weil ansonsten die Anspannung, Formung und Ausdehnung der Wirbelsäule nicht möglich ist, geschieht genau aus der Mitte der Wirbelsäule. Diese Mitte, die sich in Höhe der Magengrube befindet und in der Fachsprache manipura cakra* oder auch Sonnengeflecht benannt wird, bildet den Ausgangspunkt von wo sich die Wirbelsäule weit ausdehnt und die der Aspirant in die ruhige Aufmerksamkeit nehmen muss. Diese Aktivität hält der Übende aufrecht und lässt sich nicht durch eventuell entstehende Bequemlichkeits- und Unlustgefühle abhalten, weil durch die Ausdehnung der Wirbelsäule eine vorhandene Grenze im Körper überschritten wird.
Anhand der Beschreibung wird deutlich, dass der Übende darauf achtet, seinen Körper in einzelne Abschnitte zu gliedern und dass er diese Gliederung während der Ausführung immer wieder neu aufbauen muss.
Das Bewusstsein oder die Bewusstseinskräfte, namentlich das Denken, Fühlen und Wollen werden bei der Übung angeregt oder aktiviert, da der Übende den Willen nur partiell, nämlich genau in der Mitte der Wirbelsäule ansetzt und nicht impulsiv den ganzen Körper ergreift und die oberen Bereiche Kopf, Nacken, Schultern und Arme entspannt lässt. Durch diese Gliederung, die der Übende vornimmt entsteht im Fühlen eine erste Ruhe, weil ruhig die einzelnen Körperpartien erlebt werden, an manchen Stellen angespannt, an manchen entspannt. Der Wille wird wie oben erwähnt aktiv aus der Mitte als dynamisches Zentrum erlebt und der Übende bleibt wacher und ruhiger Beobachter seiner gegliederten Aktivität. Der Körper kann dabei durchaus ins Schwitzen kommen. Heinz Grill beschreibt diese Stellung mit einem schönen Satz:
“Sie ist die Stellung der Arbeit oder des Aktivseins.“ **
An einer einfacheren Vorübung lässt sich diese gegliederte, aktive und doch ruhige Aktivität erleben und nachvollziehen.
Nehmen Sie eine Sitzhaltung mit gestreckten Beinen ein und heben Sie die Arme über den Kopf nach oben und strecken die Wirbelsäule aus der Mitte nach oben. Die Handflächen berühren sich oben angekommen über dem Kopf leicht. Dann kehren Sie wieder mit den Armen und Händen zurück und berühren mit zur Seite gestreckten Armen den Boden. Die Wirbelsäule bleibt während der Ausführung durchgehend aktiv weit nach oben gestreckt. Während der Ausführung achtet der Aspirant darauf, dass Schultern, Nacken und Kopf entspannt bleiben. Ruhig beobachtend erlebt der Übende den entspannten oberen Bereich des Körpers und den willensaktiven mittleren Bereich der Wirbelsäule. Ein ruhiges Empfinden bei gleichzeitig willentlicher Aktivität lässt sich bei der Ausführung erleben. Diese vorbereitende Übung kann man mehrmals wiederholen, weil man dadurch ein Empfinden für die Gliederung erlebt.
Bei der weiteren Ausformung der Stellung werden der Oberkörper und die Arme mit entspannten Schultern weit über die Beine nach vorne hinausgetragen. Es ist durchaus sinnvoll nicht zu schnell sich in die Stellung hineinzuarbeiten und zwischendurch kurz innezuhalten. Den Atem, der frei aus dem umliegenden Raum aufgenommen wird, beobachtet der Übende, dabei richtet er den Blick in den Raum nach vorne und es wird auch eine wache Übersicht der Sinne angeregt. In der Endphase werden die Füße ergriffen oder die Hände umgreifen die Füße. Wenn die Dehnung schon gut gelingt können auch noch die Unterarme den Boden berühren. In dieser Stellung kann die Asana einige Minuten gehalten werden und der Aspirant beobachtet ruhig mit weiter aufrechterhaltener Spannung in der Mitte der Wirbelsäule seinen von ihm gegliederten, geformten Körper.
Wenn der Übende noch nicht mit den Armen nach vorne kommt, sollte er auf keinen Fall den Rücken runden, um weiter nach vorne zu kommen. Das Aufrechterhalten der Spannung aus der Mitte der Wirbel-säule ist die Arbeit in der Stellung und erfordert ein ständiges Aktivsein.
Die gesundheitlichen Wirkungen der Kopf-Knie-Stellung
Zunächst kann man einmal die physiologischen positiven Aspekte dieser Stellung erwähnen. Es werden durch die weite Dehnung der Wirbelsäule die Bandscheiben entlastet, da die Wirbelkörper mehr Raum erhalten. Das Herz- und Kreislaufsystem wird durch die gezielte Willensarbeit angeregt und auch das Stoffwechselsystem wird durch die weite Vorbeuge intensiviert und die Organe Leber, Milz, Pankreas und Nieren erfahren eine Aktivierung.
Ein darüber hinausgehender Aspekt ist, dass der Übende eine Ruhe und Entlastung des Nerven-Sinnessystems erlebt und zwar nicht aus der Körperphysiologie heraus, sondern, weil er sich mit eigener Kraft aus der unteren und mittleren Wirbelsäule den eigenen Spannungen mit vollem Bewusstsein für eine bestimmte von ihm festgelegte Zeitdauer hingibt. Diese Hingabebereitschaft erfordert eine hohe seelische Aktivität, die ihm dann rückwirkend ein Empfinden von Ruhe schenkt.
Der Gedanke den Körper in einzelne Bereiche zu gliedern hilft ihm die Stellung zu führen und darin eine bestimmte Zeit zu halten, gewisse Bereiche im Körper anzuspannen und andere zu entspannen. So kann man feststellen, dass zuerst ein Gedanke oder eine Vorstellung besteht, die der Übende mit dem Werkzeug seiner Seelenkräfte Denken, Fühlen und Wollen kreiert. Diese Aktivität drückt sich dann im Körper aus und wird an diesem auch sichtbar. Diese gegliederte Aktivität schenkt ihm rückwirkend ein ruhiges Empfinden.
Die Fähigkeit zu gliedern kann auch im bewegten Alltag eine Ruhe und Übersicht spenden, da der Aspirant auch dort Phasen selbständig kreieren kann, wo er bei gezielter willentlicher Aktivität eine ruhige Übersicht behält. Die einzelne Asana lässt sich somit auf das bewegte Alltagsleben übertragen und die Übung bekommt dadurch eine andere Bedeutung, weil sie nicht mehr alleine für sich isoliert praktiziert wird.
Der Praktizierende wird die Qualität der Ruhe mit erhöhter willentlicher Aktivität auch im Alltagsleben umsetzen können.
* Heinz Grill hat dieses Zentrum sehr genau in seinem Buch „Die Seelendimension des Yoga“, S. 47-52 u. S. 136,137 beschrieben.
** Heinz Grill, Ein Neuer Yogawille, S. 34